RB Leipzig und die Tradition der anderen

„Wer Red Bull hasst, hasst sich selbst“, so war eine Kolumne von Wolfram Eilenberger in ZEIT ONLINE vom 27. September 2016 überschrieben. In der Tat kann man diese geballte Protestfront gegen RB Leipzig nicht mit rationalem Schematismus erfassen.

„In der vereinten Abneigung RB Leipzig gegenüber verkennen die Anhänger der Traditionsvereine das Wichtigste: Wogegen sie wirklich protestieren, ist ihr eigener Club.“[1]

Bei der Betrachtung des Spagats zwischen Tradition und Kommerz stößt man durchaus bei den Klubs auf Merkmale, die noch sehr wenig mit der immer sehr gern zitierten traditionellen und ethischen Herkunft von Fußballvereinen zu tun haben. Für einige Klubs ergeben sich artifizielle Merkmale und Modelle, die zeigen, wie individuell mit Tradition und Kommerz umgegangen wird:

KlubKlub-MerkmalModell
Bayer 04 LeverkusenDer Betriebssport-KlubDas Unternehmens-Modell
VfL WolfsburgDer Werks-KlubDas Konzern-Modell
TSG 1899 HoffenheimDer Investor-KlubDas Investoren-Modell
Hamburger Sport VereinDer Fremdkapital-KlubDas Diktatoren-Modell
Werder BremenDer Low-Budget-KlubDas „Kommerz-Light“-Modell
Hertha BSCDer No-Budget-KlubDas Ultra-Fan-Modell
Hannover 96Der Unternehmer-KlubDas Patriarchen-Modell
BV Borussia DortmundDer Kapital-KlubDas Aktien-Modell
RB LeipzigDer Retorten-KlubDas Mega-Modell
FC Bayern MünchenDer Erfolgs-KlubDas Erfolgs-Modell
Eintracht FrankfurtDer Banker-KlubDas Heuchler-Modell

Wenn man also hier einmal diese „Modelle“ betrachtet, so stellt sich zwangsläufig die Frage, ist der Prostest gegen RB Leipzig nicht tatsächlich der verzweifelte Versuch, der sich eben auch gegen den eigenen Klub richtet, gegen die Strukturen und den Kommerz, der überall auch bei den Traditionalisten inzwischen einhergeht.

Sieht also so die Identität der Traditionsvereine und deren Anhänger aus, die diese Tradition für sich reklamieren, die die Gesamtheit als Entität von allen anderen unterscheidenden Eigentümlichkeiten beschreibt?

Hat dagegen RB Leipzig nicht sogar mehr Identität geschaffen, weil man transparent die Beziehung von Klub und Kommerz darstellt?

Nun wird das Projekt Leipzig in seiner Kernfunktion immer sehr gern als lupenreines Werbeinstrument für die Vermarktung eines Stimulierungsgetränkes mit sportfremden Ziel dargestellt. Dieses leider sehr vielstimmig und immer mit den gleichen Vokabeln und Attributen. Allein dieses müsste schon einem intellektuellen Publikum doch sehr apokryph erscheinen. Ist das dann nicht auch viel zu banal, wenn man andererseits wahrnimmt, dass auch immer mehr Traditionsvereine einen Finanzierungsweg einschlagen, der dem von RB Leipzig durchaus familienähnlich ist. Und ist nicht jeder Bundesligaklub zunächst auch ein wertschöpfendes und profitorientiertes Wirtschaftsunternehmen?

Sind deshalb also motorenmanipulierende Autobauer, umweltschädliche Chemiekonzerne, vorbestrafte Investoren, Finanzkrisen auslösende Banken, bedingungenstellende Milliardäre oder auch vormals russische Gaslieferanten, die besseren und vor allem moralischeren Unternehmen, um einen Bundesligaklub finanziell unterstützen zu dürfen? Gibt es denn da überhaupt noch einen Unterschied zwischen interessensbegleiteter Sponsorendurchdringung von innen oder einer interessengesteuerten finanziellen Unterstützung von außen?

Worin liegt also der zornspendende Unterschied zwischen RB Leipzig und dem Rest der Liga? Weshalb ist die Identität der Leipziger entfremdet, aber die des eigenen Klubs moralisch, authentisch und organisch?  

Wer sich hier selbst hinterfragt und diese Fragen ernst nimmt, könnte der Wahrheit einen Schritt näher kommen. Psychologisch könnte man dieses mit umgelenktem Selbsthass (oder Spaltungsabwehr)[2] erklären. Der Traditionsfan ahnt, ja weiß, dass sein Klub längst in den globalen, finanziellen Strömen eingetaucht ist, will dieses aber nicht wahrnehmen und verdrängt so auch seinen Hass auf seine eigene Rolle als Anhänger eines durchaus kommerziellen Traditionsklubs. Als Ventil braucht er einen ideologischen Blitzableiter und der bietet sich eben bei dem Modell an, das postfaktisch für alles das stehen soll, was er negieren will. Die Intensivfans versuchen damit die absehbare, strukturelle und kommerzielle Entwicklung zu verdrängen und sich in Zeiten zurück zu versetzen, wo vermeintliche Chancen- und Wettbewerbsgleichheit herrschte. Sie merken aber auch, dass sie dabei von Ihrem ureigenen Verein in Stich gelassen werden.

Der Pantragismus ist dabei leider, dass sie dabei nicht nur von ihrem Verein allein gelassen werden, sondern das diese Vereine in Ermangelung von Visionen für die Zukunft sich selbst in die Tradition flüchten und sich als tradierte, regionale Lebensformen verstehen. Damit wird dann aber die Selbstverzweifelung der Anhänger geradewegs noch befeuert. Sorgsam kultivierte Vereinstraditionen sind aber eher Erfolgshemmnisfaktoren, als Erfolgsfaktoren, und hier steht gerade der RB Leipzig für die sportliche Relevanz dieser radikalen These.

Ein Hinweis auf die Selbstverzweifelung, und das letzte Lufthohlen vor der möglichen Apokalypse einiger Klubs ist die Tatsache, dass man dort sich ehemalige Fan- und Ultra-Funktionäre an die Spitze der Präsidien wählt, als heuchlerischen Ausdruck von Solidarität.  Aber was soll das für ein Zeichen sein? Vereint im Sozialismus gegen das Kapital? Und den Protagonisten die Millionen!!! 


[1]  Quelle: ZEIT.ONLINE vom 27. September 2017

[2]  Diese Spaltungsabwehr schützt den „guten“ Objektanteil vor den eigenen Aggressionen, die im nächsten Moment dem „bösen“ Objektanteil gegenüber gefahrlos und exzessiv ausgelebt oder ihm zumindest projektiv zugeschrieben werden können. Quelle: Wickipedia.de